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Verlagsgeschichte
Seit 1872 im Dienst der Wissenschaft
HARRASSOWITZ ist ein traditionsreicher Verlag, der sich seit jeher den Geisteswissenschaften im weitesten Sinn verschrieben und sich dabei international einen Namen gemacht hat. Gegründet wurde die Firma 1872 in Leipzig von dem jungen Buchhändler und Antiquar Otto Wilhelm Harrassowitz (1845–1920), und zwar sowohl als Verlag als auch als Buchhandlung für den Import und Export wissenschaftlicher Literatur. Dieses Geschäftsmodell besteht seither fort, wobei HARRASSOWITZ heute im buchhändlerischen Bereich ausschließlich als Bibliotheks- und Zeitschriftenagentur arbeitet. (Im Folgenden beschränken wir uns auf die Geschichte des Verlags. Wenn Sie mehr über die Gesamtfirma Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG erfahren möchten, so besuchen Sie die Webseite www.harrassowitz.de.)
Bereits zur Gründungszeit hatte sich der Verlag auf zwei Programmgebiete spezialisiert, die tragende Säulen bleiben sollten: die Buch- und Bibliothekswissenschaft und vor allem die Orientalistik. Dies war kein Zufall. Die seit dem 16. Jahrhundert immer wieder aufflammende Orientbegeisterung in der westlichen Welt hatte im 19. Jahrhundert einen neuerlichen und neuartigen Höhepunkt erreicht. Wurde bis dahin der Orient häufig, beispielweise in der Literatur, verklärt und mystifiziert, begann man nun im Deutschen Reich, sich ganz konkret politisch und ökonomisch mit dem „Morgenland“ auseinanderzusetzen und seine Sprachen und Kulturen wissenschaftlich zu erforschen. Ein wichtiges Movens dieses gestiegenen Interesses, insbesondere an den „Ländern der Bibel“, waren die aufsehenerregenden Entdeckungen, die vor allem Engländer und Franzosen, Angehörige der bedeutenden Kolonialmächte, seit Mitte des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts gemacht hatten und noch machten. Auch die Deutschen wollten hinter diesen Erfolgen nicht zurückstehen. 1845, also rund dreißig Jahre vor der Gründung unseres Unternehmens, wurde in Leipzig die „Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG)“ ins Leben gerufen. Als älteste wissenschaftliche Vereinigung deutscher Orientalisten beschäftigen sich ihre Mitglieder bis heute vorwiegend mit Sprachen und Kulturen des „Morgenlandes“, also insbesondere des Vorderen Orients, sowie von Teilen Asiens, Ozeaniens und Afrikas. 1877 wurde der „Deutsche Verein zur Erforschung Palästinas“ gegründet, und einige Jahre später konstituierte sich die „Deutsche Orient-Gesellschaft“, die Forschungen auf dem Gebiet der orientalischen Altertumskunde fördern und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen sollte und unter dem Protektorat des an der Archäologie außerordentlich interessierten Kaiser Wilhelms II. stand. Alle drei genannten Vereinigungen von Sprach- und Kulturwissenschaftlern sowie Archäologen bestehen bis heute und gehören – bezeichnenderweise – zu den wichtigsten Partnern von HARRASSOWITZ. Otto Harrassowitz erkannte diese Trends seiner Zeit und legte zu Beginn des sogenannten Deutschen Kaiserreichs den Grundstock für ein anspruchsvolles wissenschaftliches Verlagsprogramm, darunter viele Standardwerke. Das Unternehmen entwickelte sich und prosperierte, bis das rege verlegerische und buchhändlerische Leben durch den Zweiten Weltkrieg jäh unterbrochen wurde. Bei dem verheerenden Luftangriff auf Leipzig in der Nacht des 4. Dezember 1943 wurden Geschäfts- und Lagerräume der Firma HARRASSOWTZ total zerstört. Sämtliche Dokumente, das Archiv und nahezu eine Million Bücher wurden Opfer der Flammen. Aufgrund dieses schweren Verlustes gibt es (bislang) leider keine detaillierte und fundierte Firmen- oder Verlagsgeschichte für die Jahre vor 1947. Nach Kriegsende wurden die Geschäfte zunächst provisorisch fortgeführt. 1947 jedoch sah Hans Harrassowitz, Sohn des Gründers und Firmenchef seit 1915, in Leipzig, also in der sowjetisch besetzten Zone, keine Zukunft mehr für sein Unternehmen. Der Eröffnung einer Filiale im amerikanischen Sektor, in der späteren hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, folgte schon bald die Neugründung der Firma, nachdem HARRASSOWITZ Anfang der 1950er Jahre von der Regierung der DDR enteignet und zerschlagen worden war. Ab 1956 firmierte HARRASSOWITZ als OHG mit den Inhabern Hans Harrassowitz und Wilfred Becker. Nach dem Tod von Hans traten 1964 als persönlich haftende Gesellschafter seine Witwe Gertrud sowie die Prokuristen Richard W. Dorn und Felix O. Weigel ein. Noch immer im Besitz jener Personen bzw. derer Erben und Familien, agiert HARRASSOWITZ heute als GmbH & Co. KG weiterhin als unabhängiges, inhabergeführtes Unternehmen. Der Verlag war von Anfang an eine weitgehend selbständige und programmatisch stets eigenverantwortliche Abteilung. Geleitet wurde er zunächst von Hans Harrassowitz selbst, gefolgt von den Historikern Dr. Ludwig Reichert (1953-1974) und Dr. Helmut Petzolt (1974-1992) sowie dem Theologen Michael Langfeld (1992-2007). Von 2007 bis 2020 lenkte die Literatur- und Sprachwissenschaftlerin Dr. Barbara Krauß die Geschicke des Verlags. Zum 1. Januar 2021 übergab sie die Verlagsleitung an den Klassischen Archäologen und Althistoriker Stephan Specht. Für den Verlag bedeutete die Übersiedelung nach Wiesbaden, nicht zuletzt aufgrund des vollständigen Verlustes des Buchlagers, einen wirklichen Neuanfang. Begünstigt wurde dieser durch das Wiederaufleben wissenschaftlichen und akademischen Lebens in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Das Bedürfnis nach neuen, politisch unbelasteten Lehrwerken und -materialien sowie die Etablierung neuer Forschungsansätze und -methoden fanden lebhaften Widerhall im Verlagsprogramm. Bedeutende Wörterbuch- und Lexikonunternehmen prägten die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts; und über die Jahre hinweg entstand eine Fülle neuer Buchserien und Zeitschriften. Die angestammten Programmbereiche wurden ausgebaut und erweitert. HARRASSOWITZ übernahm führend den Verlagspart bei der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 1960 als Langzeitprojekt geförderten Katalogisierung abendländischer Handschriften in deutschen Bibliotheken. Die Schwerpunkte „Frühe Neuzeit“ und „Buchwissenschaft“ konnten nicht zuletzt dank der Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, welche 1984 als Kommissionärin mit ihren Buchreihen, Zeitschriften und Ausstellungskatalogen zu HARRASSOWITZ gekommen war, etabliert bzw. gefestigt werden. Neu entstanden die Programmsegmente „Geschichte Osteuropas“ und „Slavistik“. Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands eröffneten sich nicht nur neue Märkte. Der Aufbau und die Umstrukturierung der Universitäten in den „neuen Ländern“ boten vielfältige verlegerische Chancen. Der Bedarf an aktueller und nicht-ideologischer Fachliteratur war groß, und die Aufbruchsstimmung schlug sich in neuen Buchreihen, Zeitschriften und Lehrwerken nieder. Kurz nach der Jahrtausendwende erlebte die „Orientalistik“ einen weiteren Aufschwung, als die „Deutsche Morgenländische Gesellschaft“ mit ihrer Buchreihe und ihrer Zeitschrift zu HARRASSOWITZ wechselte. Wichtige neue Schwerpunkte innerhalb des Verlagsprogramms entwickelten sich seit 2007, als Verlag und „Deutsche Orient-Gesellschaft“ ihre Zusammenarbeit beschlossen und besiegelten: die „Vorderasiatische Archäologie“ und die „Altertumswissenschaften“ gehören seither untrennbar zu HARRASSOWITZ. Auch der Bereich „Kulturgeschichte und Geschichte“ wurde in diesen letzten Jahren aktiv befördert und erhielt wesentliche Impulse u.a. aufgrund der Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle (2010). Seit 2013 schließlich ist HARRASSOWITZ stolz darauf, „Hausverlag“ der renommierten „Monumenta Germaniae Historica“ zu sein, jener altehrwürdigen Einrichtung, die es sich seit ihrer Gründung durch den Reichsfreiherrn Karl vom Stein (1819) zur Aufgabe gemacht hat, mittelalterliche Textquellen zu erschließen und zu edieren und durch kritische Studien zur wissenschaftlichen Erforschung der deutschen bzw. europäischen Geschichte beizutragen. Enge Kooperationen mit dem Deutschen Archäologischen Institut, insbesondere mit dessen Zweigstellen Kairo, Athen und Rom, machten seit 2017 die Archäologie zu einem der Hauptschwerpunkte des Verlags. Auch wenn HARRASSOWITZ nach wie vor ganz wesentlich auf das qualitativ wertvolle gedruckte Buch setzt, so haben doch gleichwohl die sogenannten neuen Medien Einzug in das Programm gehalten. Seit etwa 2015 erscheinen fast alle neuen Titel gleichzeitig mit dem gedruckten Buch auch als E-Book, und eine ganze Reihe von Zeitschriften wird sowohl gedruckt als auch als E-Journal publiziert. Moderne Druck- und Reproduktionsverfahren erlauben es, vergriffene Titel wieder als „Book on Demand“ lieferbar zu machen oder auch Bücher sehr speziellen Inhalts für eine kleine Leserschaft überhaupt erst anzubieten. Tradition und Innovation gehen so Hand in Hand, und wie schon in den Anfangsjahren publiziert HARRASSOWITZ Bücher und Medien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die Wissenschaft. Es sind gelehrte Studien, Dissertationen, Habilitationsschriften, Aufsatzsammlungen, Dokumentationen, Editionen, Kataloge, Grabungsberichte, Lehrwerke, Lexika und Wörterbücher. Mit 4.000 lieferbaren Titeln, ca. 150 aktiven Buchreihen und 32 Zeitschriften und Jahrbüchern sowie jährlich rund 250 Neuerscheinungen gehört HARRASSOWITZ heute zu den führenden internationalen Wissenschaftsverlagen. Weiterführende Literatur: Barbara Krauß/Steffen Schickling: 150 Jahre Harrassowitz Verlag. Ein historischer Abriss. In: Aus dem Antiquariat. N.F. 20 (2022) 2, S. 46-58. |