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Justus Samuel Scharschmid (1664–1724) knüpfte bereits während seines Studiums Kontakte zu bedeutenden Vertretern der pietistischen Bewegung, so unter anderem zu Philipp Jakob Spener (1635–1705), Paul Anton (1661–1730), Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) und August Hermann Francke (1663–1727). Zeitlebens verstand er sich als Teil dieser Bewegung.
Die hier edierte Autobiographie enthält zahlreiche Briefkopien und ermöglicht tiefe Einblicke in die anfängliche Formierung des Halleschen Pietismus sowie in die Denkweise und in die organisatorischen Strukturen der Bewegung. Scharschmid war der erste Emissär des Halleschen Waisenhauses in Osteuropa und Russland. Bei längeren Aufenthalten im Baltikum und dann vor allem in Russland betrieb er die systematische Ausbreitung des pietistischen Netzwerks und lernte die Kontroversen kennen, die der Pietismus allerorten entfachte. Durch seine Reisen, die Scharschmid bis Archangelsk am Nordmeer und bis nach Astrachan sowie Terek am Kaspischen Meer führten, sind nicht nur aufschlussreiche Informationen zur frühneuzeitlichen Praxis des Reisens und der Kommunikation in dieser damals wenig erschlossenen Weltgegend überliefert, sondern auch ethnographische Beschreibungen der Völker nordwestlich des Kaspischen Meeres, die zu den frühesten ihrer Art gehören. So macht diese Edition einen einzigartigen Quellenschatz für zahlreiche Disziplinen der Frühneuzeitforschung nutzbar. Von den Historikern bislang unzureichend beachtet, werden die beiden Autobiographien Scharschmidts nun von Sebastian W. Stork in einer Edition gewürdigt. Der Leser erhält mit Scharschmids Aufzeichnungen detaillierte Einblicke in das innere Gefüge pietistischer Gemeinden und in die Auseinandersetzungen zwischen frühen Vertretern des Pietismus und orthodoxen Gruppen. Ebenso erlebt er die Ereignisse in Russland unter Peter I. bei den nicht-russischen Ethnien im Kaukasus und lernt die Praxis des Reisens in der Frühen Neuzeit und auch die (Selbst-)Behandlung bei Krankheiten kennen. In Scharschmids Schilderung seiner Tätigkeiten lassen sich zudem bereits ansatzweise inhaltliche und darstellende Elemente erkennen, die den Übergang zur Neuzeit ankündigen. |